Einst in Europa

Ehe der Mohn blüht, ist seine grüne Knospe hart wie die äußere Schale einer Mandel. Eines Tages wird diese Schale aufgesprengt. Drei grüne Splitter fallen zur Erde herab. Es ist kein Beil, das sie aufsprengt, sondern einfach eine zusammengeballte Kugel gefalteter, membrandünner Blütenblätter, wie Lappen. Wenn sich die Lappen entfalten, wechselt ihre Farbe von neugeborenem Rosa zum unverschämtesten Scharlachrot, das sich auf den Feldern findet. Es ist, als wäre die Kraft, die die Knospe sprengt, das Bedürfnis dieses Rots, sichtbar und gesehen zu werden.“ *

Solange es gegen etwas geht, scheint Identitätsbildung das Einfachste auf der Welt. Wir gegen die anderen. Das muss funktionieren. Zumindest für den Augenblick. (Wenn man den Diskurs weglässt, den dieses Handeln befeuert.) Das funktioniert auch in Hamburg beim G20-Gipfel. Destruktive Gewalt. Richtungslos. Gegen Autos, die im Weg stehen. Gegen Ladenbesitzer, die zufällig an dieser Stelle einen Lebensplan verfolgen. Und gegen die Polizei sowieso, weil sie willfährig den Platzhalter abgibt für das Böse. Aber wogegen geht es eigentlich? Gegen Trump, gegen Klimaignoranten, gegen die Kriegsspielmafia, gegen Erdvernichtung? Gegenüber den Gewaltmächtigen, die beiläufig über unsere Zukunft entscheiden, gibt es auf die Schnelle nur zwei Reaktionen: Ohnmacht oder Gegengewalt. Das zeigt sich in Hamburg. Und das ist nachvollziehbar, weil viel auf dem Spiel steht und die G20-Gipfel längst zum Synonym dafür geworden ist, dass die dringlichen Lösungen nicht in Angriff genommen werden, wenn es um zynisches Taktieren geht. Nur eine gemeinsame, tragfähige und reichhaltige Idee Europas werden wir damit nicht entwickeln.

Warum sollen da ausgerechnet Geschichten helfen? Weil Europa auf dem Feld der ausgedünnten Oppositionen ebensowenig gedeihen kann wie auf dem Feld der realpolitischen Sachzwänge. Weil es um eine Bewegung von unten geht. Und weil die Befreiung und Fülle, die wir ersehnen, aus einer „zusammengeballten Kugel gefalteter, membrandünner Blütenblätter“ kommen wird. Geschichten können bewegen, weil sie aus sich heraus eine Kraft entfalten, die geheimnisvoll und explosiv ist. „Es ist als wäre die Kraft, die die Knospe sprengt, das Bedürfnis dieses Rots, sichtbar und gesehen zu werden.“

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Als Kind wuchs ich in der Mitte von Etwas auf, das sich Österreich nennt. Und in dieser Mitte war ich der Nabel einer Welt aus Wiesen und Seen, „um die sich die Berge die Hand reichen“, wie ein Dichter vor 100 Jahren über meine Heimat geschrieben hat. Naturgemäß war es jedes Mal ein Erlebnis, wenn wir im Urlaub die Grenze überschritten, meist nach Italien. Ich erinnere mich an den kindlichen Blick aus dem Autofenster kurz vor dem Loiblpass, der die Gehöfte diesseits und jenseits der Grenze sah und sich hineinzudenken versuchte in die Köpfe und Herzen der Menschen, die so nah an der Grenze lebten. Diese Beinahe-Italiener oder Beinahe-Österreicher, je nach Fahrtrichtung und Reiseziel. Ich war damals neun oder zehn Jahre alt und konnte mir auch mit viel Denkaufwand diesen Zusammenprall von natürlicher Lebenswelt und willkürlicher Grenzziehung nicht vorstellen. Es war eine empathische Ferne, die ich in mir spürte und die soweit ging, dass mir unter der Hand mein eigenes Leben, das ich bis dahin so schicksalshaft und unhinterfragt in mir trug, von diesen mir völlig unbekannten Niemandslandbewohnern aus der Bahn geworfen schien. Vom Schicksalshaften hineingeworfen in die Zufälligkeit. Das Ende der Geborgenheit. Ich begann in alten Kisten zu kramen, Ahnenbücher zu durchforsten – nur, um eine Spur zu finden, die mich hinausträgt aus diesem Land. Der Grenzgänger war geboren.

Meine Heimat war niemals Österreich. Außer vor dem Fernseher bei den Sportarten, die mir wichtig waren. Wirklich bedeutend wurde es, wenn das Eurovisions-Logo mit zugehöriger Erkennungsmelodie die Familie rund ums Kastl versammelte, um etwas Größerem, Grenzüberschreitenden beizuwohnen oder einfach zum „Wir-gegen-den-Rest-der-Welt“. Aber das ist lange her und ist wie aus einem anderen Jahrtausend. Nein, es ist ein anderes Jahrtausend. Ein Damals, in dem die Welt selten bei uns vorbeischaute.

Heute ist alles anders. Von überall schreit mir die Welt ins Gesicht, meine Haare stehen zu Berge, wenn ich kommunikativ heutig sein will. Und meine Heimat? Hat sich ins Offline verzogen. Ist eine gebirgige Naturgestalt, die mir angenehm im Magen liegt. Ist Gänsehaut, wenn ich das Feuer in mir mit anderen teile. Das seltsame Gefühl der Nähe zu anderen Bergbewohnern, die ich nicht kenne. Und Europa? Nicht mehr als ein Begriff, der irgendwo aufschlägt, wo es flach oder zumindest städtisch genug ist. Und so lässt sich an der gefühlten Entfernung zu Europa wie in einem EKG der momentane Zustand und die Wirkmächtigkeit dieser Idee ablesen. Seit ich mit gleichgesinnten Story-Aktivisten über dieses Europa nachdenke, werden die Ausschläge größer und kommen in kürzeren Abständen. Der Dialog bringt uns zusammen. Geschichten verbünden sich gegen die Verflachung des Lebens. Geschichten verdichten und verweben sich ineinander, sodass das Meine von dem Deinen kaum mehr zu trennen ist.

Dieser Text ist wie ein Brief, den ich an Europa schreibe. An ein Europa, das keine Adresse hat. So bleibt mir nur die Flaschenpost, die ich an der Quelle des Baches abschicke, an dem ich lebe. Er schießt dort direkt aus dem Felsen in die Welt. Weißes Wasser, wohin man schaut. Mein Sohn Finn, der in der Rucksacktrage auf meinem Rücken sitzt, ist entzückt und fuchtelt wie wild mit den Händen. Finn, mit doppeltem N. Das könnte ein Anfang sein.


Das Kick-Off zu diesen Geschichten, die sich um die Zukunft Europas drehen und dabei Vergangenes, Gegenwärtiges und noch nicht Dagewesenes verknüpfen, gibt’s übrigens von 15.9. bis 16.9.2017 in Aachen im Rahmen unserer Initiative STORIES FOR EUROPE. Macht mit, seit dabei, kommt nach Aachen. Wir kochen eine Suppe aus Steinen und schauen, was entsteht.


*Dieses Zitat ist der Erzählung „Einst in Europa“, dem zweiten Teil der wunderbaren Trilogie von John Berger „In Ihrer Arbeit“ vorangestellt – eine Ansammlung von ineinander verwobenen Geschichten. „A portrait of two worlds – a small Alpine village bound to the earth and by tradition, and the restless, future-driven culture that will invade it – at their moment of collision.“

 

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