Alles klar? Hoffentlich nicht!

Wir brauchen es jetzt. Das klare Ziel. Und dann – krempeln wir die Ärmeln hoch. Ja, natürlich. Wer möchte das nicht: mit anderen in eine Richtung laufen? Hand in Hand. Auf einen Horizont zu, der betörend glitzert.

© Mathew Henry / unsplash

Wir sehnen uns nach Eindeutigkeit. Und das umso mehr, je komplexer und unverständlicher die Welt um uns herum sich anfühlt. Deshalb haben Populisten Hochkonjunktur, die mit einfachen Wahrheiten, Reinheitsgeboten und Schuldzuweisungen hausieren gehen. Und deshalb boomen Zukunftsinstitute mit Instant-Visionen, die jede noch so marginale Tendenz mit Etiketten bekleben, die Konsumierbarkeit suggerieren.

Dabei merken wir gar nicht, wie wir unter der Hand verarmen – in diesem Schwarz-Weiß-Universum, das Farbnuancen und Schattierungen negiert und uns auf schnelle, aber nirgendwo hinführende Lösungsautobahnen lockt.

Aber warum ist das so? Was lähmt uns zusehends? Und woher kommt es, dass diese duale Welt, die nur Freunde und Feinde kennt, Wahrheitsbesitzer und keine Wahrheitssucher, so anziehend ist? Und warum ist es so, dass wir Vielfalt, Pluralität und Komplexität nicht mehr als Bereicherung empfinden?

Weil wir denk- und differenzierungsmüde geworden sind? Doch woher kommt diese nervöse Müdigkeit, die alles, was nicht eindeutig zuzuordnen ist, in den Keller oder auf den Dachboden verbannt, wo die Ober- und Untertöne zuhause sind? Derweil jeder Zwischenton im Erdgeschoß skandalisiert wird.

Aber was hat das alles mit StoryWork zu tun? Und mit unserem nächsten StoryCamp, das wir im Juni 2022 in Goldegg errichten werden? Ganz viel. Glauben Sie mir.

Goldegg am See mit Schloss / © Josef Moser jun.

Weil Geschichten für Mehrdeutigkeit stehen – egal, ob innerhalb von Unternehmen oder außerhalb. Und mit dieser Mehrdeutigkeit bereichern und inspirieren sie uns. Wobei diese Mehrdeutigkeit nichts von Beliebigkeit hat, wie Thomas Bauer in seinem Büchlein über „die Vereindeutigung der Welt“ betont. Der Bedeutungsüberschuss, den Geschichten erzeugen, sorgt für Bedeutungsöffnungen, ohne in Beliebigkeiten abzutriften. Damit helfen sie uns erstens, mit unserer eigenen Mehrdimensionalität und dem Plural in uns umzugehen, und zweitens, das Miteinander in diversen Teams, Unternehmen und Gesellschaften kreativ zu gestalten. Weil gute Geschichten keine Autobahnen sind, sondern Berg- und Talfahrten, die immer mindestens zwei Ebenen, zwei Enden, zwei Ausgänge haben. Darin unterscheiden sie sich übrigens auch von Gebrauchsanweisungen, mit denen sie immer wieder verwechselt werden.

Der Bedeutungsüberschuss, den Geschichten erzeugen, sorgt für Bedeutungsöffnungen, ohne in Beliebigkeiten abzutriften.

Filmausschnitt Tarkovsky

Die Philosphin Isolde Charim hat mit „Ich und die Anderen“ ein Buch geschrieben, das um das Thema der Pluralität kreist. Ein enorm wichtiges Buch, wenn es darum geht, dass wir uns von einem phantasierten, homogenen Ganzen und einem damit gekoppelten Identitätsbegriff verabschieden, der sich gegen Durchlässigkeiten sperrt. Anzuerkennen, dass wir alle mehrheimisch und multiple Persönlichkeiten sind, ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns auf diesem unsicheren Terrain bewegen lernen. Einem Terrain, wo es nicht den einen Wahrheitsweg gibt, sondern viele begehbare Pfade. Einem Terrain ohne Markierungen, aber mit jeder Menge Wegmarken, die den achtsamen Wanderer leiten. Einem Terrain, das mit wenig Vorschreibungen und minimalen Regeln auskommt. Wenn Sie jetzt an den Film “Stalker” von Andrei Tarkovsky denken, liegen Sie nicht falsch. Dieses Terrain hat tatsächlich etwas von der ZONE, in der die alten Gewissheiten und Gesetze ihre Bedeutung verloren haben. Was hier hilft, ist allein Geistesgegenwart im emphatischen Sinn.

Isolde Charim bezieht sich auf die Straßenverkehrsordnung und das Gegenkonzept der Begegnungszonen, wenn sie versucht, diesen neuen Zugang und die damit einhergehende Verhaltensänderung zu beschreiben: Die wundersame Verwandlung aggressiver Verkehrsteilnehmer erreicht man nicht durch Regeln, schreibt sie, sondern durch „Deregulierung. Das ist die bewusste, gezielte Herstellung von subjektiver Unsicherheit. Raumplaner sagen das ganz offen. Durch räumliche Gestaltung – wie den Wegfall von eindeutig zugeordneten Straßenflächen – erzeugt man beim Einzelnen ganz absichtlich das Gefühl der Unsicherheit. Denn genau das führt zu verändertem Verhalten. Die Unsicherheit des Einzelnen erzeugt eine sichere Gesamtsituation… Damit wird die Begegnungszone zum Sinnbild der pluralisierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.

Geschichten sind wie Rundbänke in diesen Begegnungszonen.

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