White Out

Am Nullpunkt von Geschichten

 

“To the sense of touch all things are sudden, counter, original, spare, strange.”

Marshall Mc Luhan, Understanding Media

 

Das erste Bild, das mir zufällt, ist eine Gruppe von Menschen am Ekström Eisfeld in der Antarktis. Ein Bild, das ohne Oben und Unten auszukommen scheint. Ein Bild, in dem Himmel und Erde geheimnisvoll ungetrennt sind.

Ich kann im Moment, in dem ich mich in das Bild verliere, nicht genau sagen, welche Emotion es hervorruft. Nicht einmal, ob es eher utopisch oder apokalyptisch ist. Es scheint, als wäre jede Unterscheidung in dieser Nicht-Dualität aufgehoben. Die Menschen wirken wie auf einer geheimnisvollen Notenlinie angeordnet, sodass man beinahe versucht ist, auf die einzelnen Figuren zu klicken und insgeheim darauf wartet, dass sie ein Geräusch oder einen Ton von sich geben, wenn man es tut. Aber es bleibt stumm und redet nicht.  

© Hannes Grobe

Das zweite Bild kommt aus einem Buch von Karl Ove Knausgård. Der norwegische Schriftsteller erinnert sich an einen Moment in seiner Jugend, als er ein Flugzeug von Kristiansund nach Bergen nahm. Als das Flugzeug abhob, schaute er aus dem Fenster und sah, wie die vertraute Landschaft langsam kleiner wurde, bis zu dem Moment, in dem sich die Wolken über die sichtbare Erde schoben und er plötzlich von einem sehr intensiven Gefühl für das Leben überwältigt war. Dieser Moment hat sich eingebrannt. Es war ein Moment des Weltgefühls, der aus zwei grundverschiedenen Empfindungen bestand – dem Gefühl, im „Hier und Jetzt“ zu sein, und dem gegenteiligen Gefühl, getrennt, abgeschnitten, außerhalb von etwas zu sein. Eine besondere Gleichzeitigkeit von Präsenz und Distanz zur Welt, die noch heute für ihn den Ort der Kunst markiert.

Das dritte Bild gehört zu einer Geschichte, die mir ein Freund erzählte. Er war in den Westalpen unterwegs. Mit Schiern im Winter. Und sie kamen nach einem langen Tag endlich zu der leerstehenden Hütte, wo sie übernachten wollten. Draußen stürmte es und drinnen war es kalt. Die Gruppe versuchte, Feuer zu machen und mein Freund bot sich an, einen größeren Ast zu holen, den er kurz bevor sie die Hütte erreichten im Schnee liegen gesehen hatte. Er zog sich schnell etwas darüber und schlüpfte hinaus in den Sturm. Skier angeschnallt und los. Und gleich darauf fand er auch tatsächlich das Holz. Er war erleichtert. Für einen Moment unkonzentriert, denn er verlor plötzlich das Gleichgewicht und fiel um. Perplex rappelte er sich auf, wie ein Käfer, der am Rücken lag, blickte um sich und sah nichts mehr. Die Hütte nicht und auch nicht seine eigene Spur. Panik schoss ihm in die Glieder, denn er wusste instinktiv, dass es nun – wie aus heiterem Himmel – um Leben und Tod ging. Er hatte keine Zeit. Er musste sich für eine Richtung entscheiden, in der er die Hütte vermutete. Es war die richtige Richtung. Wenige Minuten später saß er wieder unter seinen Freunden und alle lachten über sein Missgeschick. Nur er selbst wusste, dass zwischen dem Lachen und der Tragödie kein Blatt Papier passte.

Das vierte Bild kommt von mir und ist eine Erinnerung, die nicht weit zurückliegt. Ich war auf Skiern unterwegs und erkannte im dichten Nebel die Wegstange der Wintermarkierung. Sie rief mich. Ich ging auf sie zu. Da brach plötzlich die Wechte, die ich dort, wo ich stand, niemals vermutet hatte. Der Boden gab nach und ich stürzte. Es waren nur drei Meter, die ich fiel, aber die Plötzlichkeit, in dem der Boden unter mir wegbrach, ist eingebrannt in meinem Kopf. Und dann dieses Fallen, das sich wie in Zeitlupe vollzog ­– begleitet von tausend Gedankenfetzen und affekthaftem Körperreagieren – bis das Bewusstsein zögernd zurückkam. Angehaltene Luft. Ruhe. Neurahmung der Situation. Das geistige Abtasten des noch liegenden Körpers, der wieder mir gehört. Ich bin nicht verletzt.

Aufatmen. Aufrappeln. Weiterspuren.

Während ich gegen den Sturm ankämpfe, brechen neue Bilder über mich herein. Geschichtenfetzen. Erzählradikale. Die Welt draußen wird zum Hirngespinst. Was ich sehe, ist das weiße Licht, das sie zurückwirft. Am Anfang war das Licht. Oder das Wort? Schwer zu entscheiden. Ich stottere mich vorwärts, während ich ankämpfe gegen den Wind. Und gegen das schwindende Gleichgewichtsgefühl. Woran kann ich mich halten, wenn der Boden aus Watte ist und die Schwerkraft mit mir zu spielen beginnt? Das ist er. Der White Out, den ich suchte. Das Unbeschriebene. Die totale Ausgesetztheit. Nur die Luft um mich herum hat Substanz. Die Substanz ist so luftig geworden, dass mir schwindelt.

Wenn die Welt nicht mehr da ist, gibt es auch für mich kein Halten mehr. Ich taste mich vorwärts, öffne mich soweit es geht, stülpe mich ins Außen. Aber da ist nichts. Keine Berührung. Kein Grund. Ich bin dort, wo die Erzählung nicht hinkommt. Ein Aufnehmendes Etwas. Vom Moment ganz durchdrungen. ICH ist zu viel gesagt. Das, was von mir übrig ist, ist unmittelbare Reizreaktion. Die Welt atmet sich durch mich ein und aus. Tränen liefen über mein Gesicht, wenn es noch da wäre.

„Wenn man schreibt, hört die Souveränität auf“, sagt Karl Ove Knausgård. „Da ist man mit etwas allein, und dieses Alleinsein ist das Wesentliche, das innerste Wesen der Literatur, aus dem heraus sie immer entsteht.“ Und ein paar Seiten weiter: „Zu schreiben heißt gerade, einen Unterschied zu schaffen, vor allem in dem, was gleich ist: Nur durch das Schreiben kann das Gleiche zu etwas Ungleichem werden.“

Und durch das Gehen, denke ich und schöpfe Mut. Aber Gehen ist nicht gleich Gehen. Thomas Bernhard fällt mir ein. Sein Gehen auf befestigten Forstwegen, das dadurch weniger ein Gehen als ein ‚Sich-in-Gedanken-Verlieren‘ war. Eine Bewegung, die ohne das Schauen auskommt. Eine Bewegung, die nur ein Anstoß ist für das Denken. Mehr nicht. Das ist auch der Grund, warum der „Denkende ja auch sein Denken als ein Gehen auffasst, sagt Oehler. Er sagt mein oder sein oder dieser Gedankengang. Es ist also vollkommen richtig zu sagen, gehen wir in diesen Gedanken hinein, wie wenn wir sagten, gehen wir in dieses unheimliche Haus hinein. Weil wir es sagen, sagt Oehler, weil wir diese Vorstellung haben, weil wir, so hätte Karrer gesagt, diese sogenannte Vorstellung von einem solchen sogenannten Gedankengang haben. Gehen wir (in Gedanken) weiter, sagen wir, wenn wir einen Gedanken weiterentwickeln wollen, wenn wir einen Gedanken weiterentwickeln wollen, wenn wir vorwärts kommen wollen in einem Gedanken. Dieser Gedanke geht zu weit und so fort, wird gesagt.“

Wer ist Oehler? Wer ist Karrer? Egal. Das Gehen, das ich suche, ist ein wegloses Wandern. Eine Bewegung, bei der alle Sinne geschärft werden. Ein Streunen, das ohne Ziel auskommt. Ein achtsames Flanieren im Gebirge, das die umgebenden Geländeformationen wie einen Parcours liest. Landschaft lesen, das Erfahrbare aushalten, wie es ist. Sich mit Eindrücken aufladen, ohne sie auszudrücken. Umgebung buchstabieren wie einen Text ohne Geschichte. Und in Bewegung übersetzen. Nicht in Worte. Sense On. Das, was dem Schreiben vorhergeht.

Diesen Zustand bevor die Erzählung einsetzt, den muss man aushalten. Den halten die wenigsten aus. Plappern alles zu, was nach Geheimnis riecht. Wenn wir nicht plappern könnten, wäre die Welt wohl nicht aushaltbar. Und so geheimnisvoll, das einem der Atem stockt. Unbeschriebene Welt. Am Nullpunkt der Geschichten. Noch ohne Davor und Danach. Statt Wenn und Dann ein räumliches Nebeneinander. Kein Denken in Geschichten, sondern ein Denken in Konstellationen. „Was haben die Raben am Ufer mit dem Rudern zu tun?“, fragt mich mein Freund, der Zeremonienmeister der Ruder-WM. Er nennt seinen Zugang „eventful thinking“ – ein Denken, das ganz nahe am Ereignis bleibt. Am Sich-Ereignen bleibt und versucht, so lange wie möglich, ohne Reim, ohne Sinn, ohne Geschichte, ohne Apropos auszukommen.

Räumliches Denken. Denken ohne Weil und Aber. Die Logik des Nebeneinander. Denken in Konstellationen. Weg vom Einzelelement, hin zum Feld der Bedeutungen, die sich über uns und unter uns hindurch aufspannen. Bedeutung als Zwischenraum. Der Fokus liegt nicht auf den Dingen, sondern auf ihrem Zusammentreffen. Bedeutung ist ein Herstellen von Bezügen. Schreiben ist Beziehungsarbeit. Das Abringen von Differenzen aus dem Mahlstrom des Immergleichen. Ist das der Nullpunkt der Geschichte? Ich schlage die Brücke zu Roland Barthes, die auf der Hand zu liegt, aber werde nicht fündig. Erst Wochen später stoße ich auf eine Stelle in seinem Buch SZ, die passend und wie auch mich gewartet zu haben scheint: „Einen Text interpretieren heißt nicht, ihm einen (mehr oder weniger begründeten, mehr oder weniger freien) Sinn geben, heißt vielmehr abschätzen, aus welchen Pluralen er gebildet ist.“

Vielleicht entspringt die Angst, sich im White Out zu verlieren, ja nur unserer Verbissenheit, im Singular zu bleiben. Ich bin der Keil der Ungleichheit in einer Welt, die sich verflüchtigt. Wo setze ich an? Wo setze ich an? Die Wiederholung ist auch keine Lösung. Ich verliere die Kontrolle. Und lasse los. Endlich.

John Berger tippt mir auf die Schulter: „Approaching experience, however, is not like approaching a house. Experience is indivisible and continuous, at least within a single lifetime and perhaps over many lifetimes. I never had the impression that my experience is entirely my own, and it often seems to me that it preceded me. In any case experience folds upon itself, refers backwards and forwards to itself through the referents of hope and fear, and, by the use of metaphor which is the origin of language, it is continually comparing like with unlike, what is small with what is large, what is near with what is distant.”

White Out. Ich gebe mich geschlagen. Ich gebe mich hin. Drüben am Horizont tauchen die Wörter auf. Wie von allein. Das “Eigentliche benötigt eine Form der Hindernislosigkeit, wenn es entstehen soll”, schreibt Karl Ove Knausgard. „Es ist immer überraschend und plötzlich da. Wir stolpern darüber. Wir können nicht anders, als darüber zu stolpern. Und dann? Halten können wir es nicht. Was wir tun können, ist zu versuchen, es schreibend aufzuheben. Mit allen drei dialektischen Verwerfungen.“  

Jetzt weiß ich, warum ich sein Buch vor mir liegen habe. Mein „Amerika der Seele“ liegt in mir. Das Schreiben ist weit weg vom apropos. Schreibende bewegen sich woanders. Am Rand des Eigentlichen. Sie haben keinen Überblick. Sie stehen nicht daneben und auch nicht darüber. Schreibende sind ohne Drohne unterwegs. Schreibende verfangen sich ununterbrochen im Wirklichkeitsgestrüpp.

I show you my fist
And I assure you
That there is no end
Without opening.

 

Die englische Version dieses Textes gibt es zusammen mit dem Buch „ENDINGS – BEGINNINGS“ hier zu bestellen.

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5 Antworten zu “White Out”

  1. Es ist beeindrucket wie Du mit Worten eine Gefühlswelt aufbaust die einem in kürzester Zeit komplett umschließt. Für mich persönlich war noch viel beeindruckender das ich nicht aufhören konnte zu lesen und das ich viel flüssiger und klarer durch die Englische Version gehen konnte als durch die Deutsche. Ein schöne Erfahrung mit Text, danke dafür.

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  2. Schreiben, gehen, fallen. Es ist Eins. Das ist mir jetzt klar geworden. Danke für diesen wunderschönen und klugen Text!
    Herzlichst, Gerald

  3. Ein sehr schöner poetischer Text, Wolfgang. Ich hatte erst kürzlich so ein „White-Out“ Erlebnis. Wir waren bei einer Halloween Party und sie übertrieben es dort ein wenig mit dem Trockennebel. Ich stand an einer Ecke der Tanzfläche und suchte gerade meinen Weg zu unserem Tisch als der Nebel plötzlich so dicht wurde, dass ich absolut nichts sah, in jede Richtung nur das grau-milchige Weiss. Was mich auch zum Stillstand zwang, weil ich mit jedem Schritt riskieren musste, mich an einer Tischkante, einem Sesselbein oder einer anderen Person zu verfangen. War nicht sehr lange, vielleicht eine halbe Minute, bis sich der Nebel wieder auf Normal zurückzog. Beim Lesen Deines Textes musste ich an diese Situation denken. Alles Liebe //tom

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