Günther Wagner hat mir in seinem Beyond-the-Box-Podcast in einem von der Pandemie leergefegten Hotel vor zwei Jahren ein paar Fragen gestellt. Jetzt bin ich wieder drüber gestolpert und war überrascht, wie jung sich die Antworten heute für mich anfühlen. Ok, ein paar Sachen mussten etwas poliert und zurechtgerückt werden, aber das Ganze fühlte sich so frisch an, dass ich es transkribieren musste.

Günther Wagner (GW): Auf deiner Webseite schreibst du über deinen Werdegang: „vom Kreativen zum Berater und zurück.“ Was machst du eigentlich, für die, die dich nicht kennen? In ein paar Sätzen?
Wolfgang Tonninger (WT): Eigentlich komme ich aus dem Geisteswissenschaftlichen. Bin dann in die Kommunikationswelt eingestiegen, trieb aber an der Oberfläche und fühlte mich zu weit weg von dort, wo Veränderung tatsächlich stattfindet. Deswegen bin ich dann Ende der 90er Jahre mehr in Richtung Unternehmensentwicklung gegangen, ohne mich wirklich für den Berater und gegen den kreativen in mir entscheiden zu wollen. Und dabei blieb es auch. Ich habe beide Hüte auf – und bin über alle Jahre der geblieben, der schreibt, der Magazine entwirft, Filme macht, obwohl ich mich durch meine systemische Weiterbildung zunehmend mit Unternehmenskultur und Organisationsentwicklung zu beschäftigen begann. Die Geschichten, denen ich lausche und die ich schreibe, bilden dabei eine Klammer, die all das umspannt.
GW: Du prägst auf deiner Webseite, die einen wohltuenden Abstand zum Business-Slang hält, den wunderbaren Begriff des „kalligraphischen Reisens“. Kalligraphie ist ja die Kunst des schönen Schreibens. Wann ist für dich Geschriebenes schön?
WT: Ich denke, da geht es auch darum, wie man Welt fasst. Mein Zugang zur Welt war immer einer, der poetisch ist. Das heißt, dass ich der tiefen Überzeugung bin, dass jede Erkenntnis auch eine ästhetische Grundierung hat. Oder anders formuliert: Ein Gedanke, der zwar richtig ist, aber Scheiße klingt, ist keiner, der mich weiterbringt. Wenn man die Gestaltung der Welt über und durch die Sprache ernst nimmt, dann kommt man beinahe zwangsläufig an Stellen, wo die Welt plötzlich anders und neu vor einem steht. Ich nenne solche Momente für mich die „Gänsehautmomente“ – da geht es nicht mehr um Oberflächenkosmetik, sondern um das Zusammenklingen von Form und Inhalt.
GW: Passiert das nur für dich oder auch in der Resonanz mit den anderen, wo dann deine Worte, deine Bilder, deine machtvollen Kreationen in Resonanz kommen.
WT: Schön, dass du das Wort aufgreifst: Resonanz. Für mich markiert das genau diesen Übergang. Im Moment der Kreation ist mir das Publikum egal, aber als Coach oder in der Unternehmensentwicklung weiß ich natürlich ganz genau, dass nicht das zählt, was ich sage, sondern das, was auf der anderen Seite ankommt. Zu sehen, dass sich das Gegenüber manchmal nicht auf das stürzt, wo man brilliert, sondern das vermeintlich Unwichtige mitnimmt, führt zu Enttäuschungen, die gut tun. Und zu der Einsicht, dass StoryWork eine hochdialogische Angelegenheit ist.
GW: Das Gegenüber nimmt sich ja die Dinge, die gerade passend sind. Wenn du in ein Unternehmen gehst, bist du ja meist mit mehrdimensionalen Räumen und Ansprüchen konfrontiert: die Geschäftsführung tickt anders als das Marketing, und das Marketing anders als der Sales oder die HR-Abteilung. Da kann es sein, dass man mit dem einen Bereich in Schwingung ist, ein anderer Bereich aber auf Argumente wartet. Wo sind für dich Argumente sinnvoll und wo Geschichten? Gibt es da für dich eine Trennung? Ich frage dich, weil du schreibst: „Ich erzähle mit meinen Geschichten gegen die Macht der Argumente und die Vorschreibungen derer an, die jeweils definieren, was richtig und erwünscht ist.“
WT: Das schreibe ich wirklich?
GW: Das schreibst du wirklich!
WT: Das kommt wahrscheinlich aus meiner Studienzeit. Ich habe damals eine Aversion gegenüber Situationen entwickelt, wo vordergründig argumentiert wird, es aber eigentlich immer nur darum ging, die eigenen Machtansprüche durchzusetzen. Natürlich kann es großen Spaß machen, einmal so richtig in die Argumentation zu gehen. Mich stört es aber, wenn man diese Argumentationsketten bewusstlos abruft und damit die Sicht auf den Erfahrungsgrund verstellt, auf dem die Geschichten wachsen. Es ist also nicht so, dass die Geschichten gegen die Argumente anlaufen. Sie liefern vielmehr das Material, das in vielen zu nichts führenden Machtspielen und Schattenboxübungen ausgeklammert wird. Wenn Worte als Waffen benutzt werden, werden die Inhalte nebensächlich. Oder anders gesagt: Es geht nicht mehr um die Sache, wenn es zur Sache geht. Jetzt sind wir bei der unguten Macht der Worte.
GW: Die Macht der Geschichten begleitet uns als Menschheit ja schon lange. Das sieht man ja schon bei den Höhlenmalereien, die ja auch bildhaft festgehaltene Geschichten sind. Meine Frage: Können wir heute überhaupt noch richtig Geschichten erzählen oder verwechseln wir häufig Geschichten mit Argumenten?
WT: Wenn wir heute in Workshops Menschen dazu auffordern, eine Geschichte zu erzählen, sehen wir, dass das oft nicht leicht von der Hand geht. Viele Menschen flüchten lieber in eine Meta-Ebene oder sie bringen handliche und vorgekaute Argumente vor. Warum das so ist? Weil Geschichten immer auch etwas über uns erzählen, das wir vielleicht nicht preisgeben wollen. Sie exponieren uns. Das ist ein bisschen wie mit dem Singen. Das fällt uns nicht so leicht vor anderen, weil uns diese orale Form der Erzählung, wie sie in anderen Kulturen noch zum täglichen Leben gehört, in den letzten hundert Jahren abhandengekommen ist. Und weil wir im Unternehmenskontext gelernt haben, dass solche konkreten Geschichten, die wir mit uns tragen und darüber entscheiden, ob wir engagiert und kreativ sind oder nicht, zu privat oder einfach nicht relevant sind. So reden wir jeden Tag über die „großen Dinge“ und entfernen uns jeden Tag ein bisschen mehr von unserem Erfahrungsgrund.
GW: Aber wie kann man Menschen und Unternehmen diese Auseinandersetzung mit Geschichten wieder schmackhaft machen?
WT: Indem man ihnen klar macht, dass Geschichten in jedem Fall unser Leben prägen, ganz gleich, ob wir sie ernst nehmen oder nicht. Die Entscheidung, die wir in der Hand haben, ist die, ob wir uns mit ausgedünnten Geschichten und hohlen Phrasen umgeben oder mit Geschichten, die reich sind; ob wir die Geschichten leben, die andere über uns erzählen, oder jene, die wir selbst gestalten; ob wir auf eine einzige Geschichtsversion setzen, die alternativlos ist, auch wenn wir mit ihr gegen die Wand fahren, oder die Vielfalt umarmen und uns beinahe spielerisch in Richtung Möglichkeitsraum öffnen. In jedem Fall wird die Welt, der wir begegnen, eine andere sein.
GW: Was oft fehlt ist der Gestaltungswille. Oder sollen wir sagen die Gestaltungsmacht?
WT: Wir haben ein eigenartiges Verhältnis zur Macht. Meistens wird Macht schlechtgeredet oder als Ohnmacht erfahren – selbst von Menschen in Firmen, die Top-Positionen bekleiden. Ganz wertfrei bezeichnet Macht zunächst mal den Umstand, dass Energie und Möglichkeiten zusammenfinden, um etwas umzusetzen. Wir erzählen Geschichten ja nie auf der grünen Wiese, sondern sind immer eingebettet in einen Diskurs, gegen den wir anschreiben, ohne den wir aber auch nicht bedeutsam sein können. Geschichten wirken immer von oben nach unten nach oben. Dekonstruktion und Ko-konstruktion sind das „Glatt-und-Verkehrt“ dessen, der an Geschichten strickt. Aus dieser Spannung heraus lebt die narrative Arbeit.
GW: Du betontest vorher, dass die Arbeit mit Geschichten hochdialogisch ist. Steht diese Arbeit nicht in Kontrast zu einem Neusprech, der in Unternehmen und vor allem im gesellschaftspolitischen Diskurs Einzug hält? Zu diesen neuen Spielformen von Frage und Antwort, wo kein Dialog mehr zustande kommt. Wo Politiker nur mehr Luft in Watte packen und Worthülsen alles vernebeln, woraus sich ein Gespräch entwickeln könnte.
WT: Das ist ein Skandal. Da gebe ich dir recht. Denn die antwortende Person sagt der fragenden Person in diesem Moment eigentlich nichts anderes als: „Ich missachte dich!“
GW: Genau. Es ist eine Missachtung. Ähnliches erfahre ich auch in Unternehmen, auf eine andere Art. Aber auch hier ist Neusprech angesagt – also oft das Gegenteil von Dialog. Was braucht es, dass wir diesen Dialog auf allen Ebenen wieder aufnehmen? Dass wir diese Kunst wieder entwickeln, auf eine Reise mitzunehmen, die uns verändert.
WT: Drei Dinge fallen mir dazu ein: Mut, Neugier und die Bereitschaft zur Reflexion. Dialog im emphatischen Sinn heißt ja, dass wir nicht – wie Otto Scharmer es nennen würde – im Downloading-Modus bleiben und einfach Dinge beim Gegenüber abladen, sondern dass wir uns gemeinsam mit dem Gegenüber auf den Weg machen und miteinander etwas bauen. – Mir fällt dazu eine Episode aus der Kindheit ein – mit meiner Oma in der Kirche. Wir saßen immer unter der Kanzel und hörten den Pfarrer predigen. Und dann kam der Moment, wo wir uns hinknieten und meine Großmutter sich auf das Brustbein klopfte und die Worte sprach: „Herr ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ Das waren für mich Gänsehautmomente. Jetzt, wo ich daran denke, muss ich schmunzeln, weil die Worte genau um das kreisten, was in der Verwandlung passiert. Das ist ja die Essenz von Geschichten, dass Anfang und Ende nicht identisch sind und dazwischen irgend etwas passiert ist. Ohne Verwandlung keine Geschichte – das Telefon läutet, es klopft an der Tür und alles ist anders: die Geschichte beginnt.
GW: Was braucht es, dass wir wieder lernen, einen Dialog zu führen? Wir sind versiert, wenn es darum geht, uns Zahlen und Fakten an den Kopf zu werfen, aber, was uns fehlt, ist ein Raum, in dem wir lernen zuzuhören.
WT: Heute wollen alle auf der Bühne stehen und TED-Talks halten. Aber wenn alle das tun, wer hört dann noch zu? Wenn ich StoryWork sage, dann denke ich nicht nur an StoryTelling, sondern auch an StoryDoing und StoryListening. Gerade das Zuhörenkönnen ist ja eine sehr unterschätzte Fertigkeit, die unmittelbar damit zu tun hat, ob wir in Schwingung sind. Resonanz setzt die Bewegung vom Ich zum Du voraus und die Offenheit, mehr als eine Geschichte zuzulassen. Dazu ist es wiederum notwendig, dass wir lernen, uns selbst im Plural zu begreifen. Wenn wir diese Vielfalt im Innen und Außen sehen lernen, entstehen ganz neue Handlungsoptionen und damit Alternativgeschichten, die im Krisenfall überlebenswichtig sind. Der Familienvater, der zur Pumpgun greift und ganze Eigenheime ausrottet, tut dies auch, weil er auf einer einzigen Geschichte sitzt und keine Alternativgeschichte zur Verfügung hat. Die wunderbare Rebecca Solnit gebraucht in diesem Zusammenhang das Bild eines untergehenden Schiffs, das wir nicht verlassen wollen, auch wenn überall die Rettungsboote bereitstehen.
GW: Diese Rettungsboote zu sehen, verlangt Offenheit und die Bereitschaft loszulassen. Ich denke da an die 3D-Bilder, die man erst sehen kann, wenn man nichts mehr sehen will und sich entspannt. Und Entspannung bedeutet wiederum, dass man in diesem Moment entfokussiert.
WT: Das ist ein gutes Stichwort. Wir leben in einer Welt, die fokusdominiert ist. Ohne ein Ziel traut man sich heute ja kaum mehr aus dem Haus. Wir vergessen dabei, dass ein Ziel die Geistesgegenwart verstellen kann. Wenn ich im Gebirge unterwegs bin und es nebelig ist, wird mir ein Ziel nicht viel helfen. Da muss ich einfach gehen können.
GW: Auf der anderen Seite helfen konkrete Ziele, den Überblick zu bewahren in einer komplexen Welt. Genauso wie einfache Geschichten.
WT: Einfache Geschichten sind wunderbar. Unreflektierte Narrative jedoch sind gefährlich. Es zeugt nicht von narrativer Intelligenz zu behaupten, „dass die Ausländer an allem Schuld sind“. Michael White, der Begründer der narrativen Familientherapie, sah in seiner Arbeit mit Bettnässern, dass die Schulpsychologie nur Schuldzuweisungen in Richtung Mutter parat hatte – entweder sie hat sich zu viel um das Kind gekümmert oder zu wenig. Wir sollten wie er stutzig werden, wenn der Diskurs wie auf einer schiefen Ebene läuft. Und das mit der komplexen Welt ist richtig und falsch zugleich. Natürlich ist die Welt komplex. Sie ist aber auch einfach geblieben. Im Nächsten ist diese Einfachheit spürbar. Ich tue mir da vielleicht leichter, weil ich am Land lebe, aber diesen Nächsten gibt es im Supermarkt genauso wie auf der Alm.
GW: Auch die Pandemie brachte eine neue Einfachheit. Wir waren lange Zeit im Kriegsmodus und manchmal scheint es so, dass wir gar nicht mehr rauswollen? Wohin geht die Reise? Was kommt nach Corona?
WT: Ich bin mit Visionen sehr vorsichtig. Spätestens seitdem das Zukunftsinstitut schon im Frühjahr 2020 damit zu erzählen begonnen hat, was nach der Pandemie alles anders sein wird. Diese Instant-Visionen sehe ich sehr skeptisch. Und werde still aus Opposition gegenüber der Geschwätzigkeit, die mich umgibt. Das Möglichkeitenland steht niemals sperrangelweit offen. Das muss man sich erarbeiten. Verlangsamung hilft dabei.
GW: Da gibt es das geflügelte Bild vom Ende des Tunnels. Können wir einfach schweigend und wie die Lemminge so weitergehen bis es wieder hell wird, oder müssen wir nicht einfach anhalten und einen Notausstieg versuchen? Erzählerisch nach oben graben?
WT: Wenn ich vom Schweigen rede, dann meine ich, dass der Visionär in mir zunächst mal den Mund hält. Aber der, der reflektiert, der darüber nachdenkt, der versucht zu beschreiben, was rund um ihn passiert, der ist natürlich schon da. Und auch der Visionär regt sich immer wieder. Aber ich bin ein bisschen misstrauisch, weil ich weiß, dass Kreativität und Tiefe oft erst dann passiert, wenn man Verlangsamung aushält. Diese Welt ist nicht nur extrem komplex, sie ist auch extrem geschwätzig und laut. Oft werden die guten Dinge, die da so keimen, einfach niedergeschwätzt oder niedergetreten. Deshalb sollten wir die Lichter im Tunnel klein halten und nicht sofort für irgendwelche Visionen instrumentalisieren. Man wird sie sehen. Es ist ja dunkel.
GW: Was braucht es, dass ich bei meiner eigenen Geschichte bleibe und nicht auf die Züge der anderen aufspringe, die mir das Licht am Ende des Tunnels oder sonstwas versprechen?
WT: Ich glaube, es geht zunächst darum, dass wir uns nicht den Rhythmus der anderen aufzwingen lassen. Dass wir uns beschränken – auch als Informationsjunkies –, weniger reinlassen und für eine Ausgewogenheit zwischen Input und Output sorgen. Byung-Chul Han hat gerade ein Buch über die Untätigkeit geschrieben, das Nichtstun, und wird von allen Seiten angegriffen, wie er es wagen kann, die Vita Contemplativa zu prädigen in einer Welt, die am Kollabieren ist. Aber hier genau wird unser blinder Fleck berührt. Wenn wir Wandel denken, denken wir sofort an aktive Veränderungsarbeit. Aber nur so als Gedankenexperiment: Vielleicht würden wir der Welt am besten dienen, wenn wir sie ein Jahr lang verschonen von unserem Tun.
GW: Danke fürs Aufheben.

WT: Bittesehr.
Eine Antwort zu “Gespräch mit einem, der mir vorübergehend abhanden kam …”
Ich kann Deiner Weltsicht viel abgewinnen. Danke fürs Teilen.