Narrative Intelligenz. Mit Resonanz zum Wir-Gefühl

Mein Beitrag für: Harald Jeschke (Autor) und Ernst Demmel (Kurator): SOULY SIDE UP. Wie Unternehmen ihrer Kultur mehr Leben einhauchen. Linz 2023. Das Buch zum Corporate Karisma Festival 2022 – Danke allen Beteiligten für Euren Einsatz!

„Maybe stories are just data with a soul.“ Brenè Brown

„Storytrain 22b auf Bahnsteig 3. Bitte einsteigen und Türen offenhalten.“

Wer zuhören kann, wird den richtigen Zeitpunkt und den richtigen Ton finden, um auf den Zug aufzuspringen. Ins Gespräch einzusteigen. Vergessen Sie den Bahnsteig. Der Zug ist immer in Bewegung. Und jeder Anfang ist eine willkürliche und künstliche Zäsur. Von hier weg erzähle ich. Bewege ich mich erzählend weiter. Weil die Bedeutung einer Geschichte das ist, was die Zuhörer mitnehmen. Geschichten sind eine hochdialogische Angelegenheit. Sie sind wie Türen in einen funkelnden Raum, der sich zwischen Storytelling und Storylistening öffnet.

Wenn wir uns an etwas erinnern, erinnern wir uns an ganz konkrete sinnliche Dinge, Erlebnisse. An nichts Abstraktes. Weil das Konkrete der Ort ist, wo die Geschichten zuhause sind. Sie sind für uns Menschen der bevorzugte Rahmen, in den wir unsere Erfahrungen gießen und durch den wir uns begreifen. Wir sind, sozusagen, die Geschichten, die wir über uns erzählen – aber auch die, die von uns erzählt werden.

StoryWork geht ins Konkrete. Es macht erfahrene Begebenheiten bewusst, nützlich und einsetzbar und führt über Resonanzen mit uns selbst und mit der Umwelt vom Ich zum Wir. Mit „Gänsehautmomenten“, in denen Form und Inhalt zusammenklingen und die Mitarbeiter:innen auf eine Reise mitnehmen, die verwandelt. Denn: Ohne Verwandlung keine Geschichte. Auf diesem Weg können alle das Wasser, das sie umgibt, kosten und spüren: Wir schwimmen in Kultur und können gar nicht anders. Was wir heute brauchen, sind keine Instant-Visionen und keine neuen Heldengeschichten. Es geht um das Gemeinsame und um die Fähigkeit, in Schwingung zu treten – mit uns und anderen. Wenn die Tür zum Möglichkeitenland nicht mehr sperrangelweit offensteht, ist Geistesgegenwart angesagt. Auch, was die Geschichten angeht, die in uns schlummern: narrative Intelligenz.

Geistesgegenwart

Wikipedia definiert den Helden als einen, „der große und kühne Taten vollbringt“, und die Heldin als eine „besonders tapfere und opfermütige Frau.“ Ehrlich? Kein Entrinnen aus den Täter-Opfer-Rollen? Oder doch? Ich denke meine Heldin programmatisch anders. Als eine, die nicht in die Aktion flüchtet, sondern geistesgegenwärtig bleibt. Heldinnenhaft ist nicht ihre Aktionsverbortheit, heldinnenhaft ist ihre Reflexionsbereitschaft. Dass sie nicht einfach mit Scheuklappen losrennt. Dass sie nicht nur den Schatz sieht, den es zu holen gilt, sondern immer auch den möglichen Verlust mitdenkt. Alle Verluste entlang des Weges und: dabei jederzeit Bodenhaftung bewahrt.

Das Jahr der Navajo kennt zwei Zeiten. Die Zeit des Handelns und die Zeit der Erzählung. Das hat schon seinen Grund und ist mit unserem Social-Media-Gehabe des gleichzeitigen Tuns und Dokumentierens nicht vereinbar. Dieses „seht her, ich lebe noch“ ist der verzweifelte Versuch des Einzelnen, das Private ins Öffentliche zu zerren, und sich damit seiner eigenen Existenz zu versichern. Doch es gibt eine Minimalentfernung von Erleben und Erzählen. Nicht nur in den eigenen vier Wänden. Und nicht nur beim Sex. Das wusste schon Gil Scott-Heron vor über 50 Jahren: „The revolution will not be televised“ – „and neither pose as a selfie“, wäre hinzuzufügen. Auch Chronologien haben Bedeutung. Erlebzeit ist Vor-Erzählzeit. Oder sie ist nicht.

Rettungsboote

Unsere Zukunft hängt daran, dass wir nicht aufhören zu erzählen. Uns erzählerisch einzuholen. Sie hängt aber auch daran, dass wir aufhören, die immer gleichen Geschichten aus unseren Köpfen herunterzuladen. Dazu benötigt es Pausen. Pausen im alles mit sich reißenden Redefluss. Kehrwasser der Kommunikation, in denen wir den Mund halten und lauschen, um neue Geschichten hereinzulassen. Unsere Zukunft hängt wohl auch daran, dass wir in diesem Kehrwasser Atem holen und uns nicht länger an diese eine Geschichte wie an Treibholz zu klammern, mit der wir hartnäckig gegen die Wand fahren. Die wunderbare Rebecca Solnit brachte es folgendermaßen auf den Punkt: „Not a few stories are sinking ships, and many of us go down with these even when the lifeboats are bobbing all around us.”

Die Rettungsboote, von denen Solnit spricht, sind die Alternativgeschichten, die wir erfolgreich unterdrücken. Manchmal ein Leben lang. Spüren Sie die Entkrampfung, die eintritt, wenn der Plural den Raum betritt? Wenn wir Bewegung und das Spielerische wieder zulassen und den Raum zwischen 0 und 1 umarmen? Und damit die Vielfalt. Ich bin viele. Du bist viele. Was interessiert uns der größte gemeinsame Nenner, wenn das kleinste  gemeinsame Vielfache lockt? Friedrich Nietzsche misstraute dem Gedanken, der im Sitzen kommt. Zwischen Problem und Lösung, zwischen Fragen und Antworten, atmet die Bewegung. Vielleicht müssen wir uns irgendwann entscheiden. Festschreibung auf der einen Seite. Dynamisierung auf der anderen. Tauchen wir Geschichten ins Fixierbad des Applauses, oder legen wir in immer neuen Reflexionsschleifen ihre Flügel frei? Walter Benjamin schreibt, dass in der „Erzählung die Spur des Erzählenden haftet wie die Spur der Töpferhand an der Töpferschale.“ Folgt man der Spur der Töpferhand an der Tonschale, dann ist man weit weg vom klassischen Erzählen – an einem Ort des Dialogs. Im fragilen Raum des BEYOND STORYTELLING, in dem sich Erzählende und Zuhörende in immer neuen Vexierbildern aufladen und begreifen.

Und die Zukunft?

In diesem Raum kann es auch wichtig sein, die Geschichten anzuhalten. Es auszuhalten, ohne Geschichte zu sein. Um die Differenz zu erfahren, die unser geheimer Antrieb ist. Um dann wiederum die ganze Kraft von Geschichten zu bündeln und die Zukunft herbeizusingen. So wie Arkady in der Traumzeit des Bruce Chatwin: „Manchmal, wenn ich meine alten Männer durch die Wüste fahre und wir zu einer Kette von Hügeln kommen, fangen sie plötzlich alle an zu singen.“ „Was singen ihre Leute da“, frage ich sie, und sie antworten: „Wir singen das Land herbei, Boss. Dann kommt das Land schneller.“ Mir gefällt die Idee, dass etwas vorgestellt oder herbeigesungen werden muss, damit es zu existieren beginnt – weil sie unseren Zugang zur Welt auf den Kopf stellt. Und weil das Rettende vielleicht nur „auf den Kopf gestellt“ vorstellbar ist.

„Storytrain 22b. Um anzuhalten, bitte Türen schließen.“

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