Listening Mov[i]es

Hier der deutsche Quelltext meines Beitrags für das wunderbare Buch von Ana-Laura Lemke (ed.) (2023): Storylistening. the book. Düsseldorf: hummingbirds 2023. Der Titel sagt, worum es geht – so, wie Adolf Loos es formuliert hätte. Ohne Schnörkel und ganz am Wesentlichen der Standortbestimmung im nebeligen Terrain, wo das aus allen Richtungen zu kommen scheinende Geschwafel die Orientierung erschwert. Ruhe bitte: „Erzählen beginnt mit dem Zuhören!“ Pfosten reingerammt. Punkt. Jetzt wo ich es schreibe, klingt es beinahe wie eine ZEN-buddhistische Anweisung. Der Meister zum Schüler: „Du willst erzählen? Dann kaue diesen Titel bis deine Zähne herausfallen.“ Der Schüler: „Aber Meister! …“ Der Meister: „Oder lese dieses Buch!“ — Es ist übrigens hier zu bestellen: https://www.hummingbirds.biz/en/the-book

LISTENING MOV[I]ES

Für mich ist Kino ein besonderer Ort. Ein Ort, in dem ich aufgehen und mich verlieren kann. Ein Ort, in dem ich aufgehen kann, indem ich mich verliere. Ich beziehe ein Außen und blicke von dort auf meine Grenzen. Weil ich dort, wo ich mich auflöse, am intensivsten bin. 

Der große Filmtheoretiker Siegfried Krakauer spricht vom Kino als einem Medium der Hypnose. Wir fühlen uns im Kino den Bildern gleichsam ausgeliefert, als ob jemand mit der Hand im Nacken unseren Kopf unter Wasser taucht, die Hände am Rücken festgebunden. Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, dass Hollywood sich als Traumfabrik etablierte. Weit weniger naheliegend ist es, wie Krakauer an anderer Stelle betont, dass im Kino selbst „dokumentarische“ Aufnahmen der ‚nackten Realität‘ eine traumgleiche Qualität besitzen.  Sie sind real und unwirklich zugleich.

Spielfilm und Dokumentarfilm unterscheiden sich also nicht dadurch, dass der eine eine Geschichte erzählt und der andere sich aufs Abbilden beschränkt. Dokumentarisches Erzählen heißt, dass man programmatisch seiner eigenen Inszenierung hinterherläuft und dabei ständig von der Realität überholt wird. Man setzt Leitplanken, baut Wegmarken, an denen man vorhat vorbeizukommen, aber – anders als im Spielfilm – bleibt die Geschichte bis zuletzt eine Baustelle. Warum? Weil „emphatische“ Dokumentarfilmer die Überraschung suchen, den Dialog, und ihre Geschichte über das Zuhören entwickeln.

An dieser Stelle fällt mir John Berger ein, der in einem seiner Romane einen blinden Erzähler das Bild eines Motorradfahrers in der Nacht beschwören ließ. Er beschreibt, wie das Licht seines Scheinwerfers die Dunkelheit durchschneidet, an Felswänden gebrochen wird und zu flackern beginnt, wenn der Weg holprig ist. Wie sich sein Licht durch die Dunkelheit wühlt wie ein Maulwurf durch die Erde. Um am Ende diesen einen Satz zu schreiben, der wie ein Stern meine Arbeit begleitet.

“Blindness is like the cinema, because its eyes are not either side of the nose but wherever the story demands.”

John Berger: To the wedding. A novel. Vintage International / Random House: New York 1995, p32

Unsere Kinoaugen sind wie Scheinwerfer in dunkler Nacht. Sie beleuchten das, was die Geschichte in unseren Köpfen von uns verlangt. So weit, so gut. Aber was ist mit unseren Ohren? Um zu hören, benötigen wir keine Scheinwerfer. Könnte es sein, dass für das Hören das Gegenteil gilt? Je dunkler es ist, umso besser hören wir. Scheinwerfer behindern unser Hören, weil das Sehen, das in unserer Kultur so dominant ist, die anderen Sinne betäubt.

Augen auf. Augen zu. Stirnlampe ein, Stirnlampe aus.

Um gut zu sehen, nehmen wir einen entscheidenden Verlust in Kauf: Dass wir – die Lichtquelle in der Hand – Fremdkörper und nicht mehr Teil von allem sind. Und wie ein weißes Loch, wenn es so etwas gäbe, alle Blicke auf uns ziehen. Wir sehen nicht nur weit, wir werden auch von weitem gesehen. Die Natur, mit der wir gerade noch verbunden waren, starrt uns an. 1000 Augen sind auf uns gerichtet. Unsere Stärke ist, dass wir die Nacht mit unserem Lichtstrahl zerschneiden können. Unsere Schwäche ist, dass der Lichtstrahl immer auch auf uns zeigt und uns zu Herausgefallenen macht.

Im Kino, das ein Medium des Sehens ist, wird der Ton unter der Hand mitgeliefert. Auf der Ebene des Unterbewussten. Was uns den Bildern ausliefert, ist der Ton. Der Ton bringt uns an unsere Grenzen und lässt uns verrückt werden. Das wusste auch Odysseus, der sich dem Gesang der Sirenen nur hingeben konnte, weil er seiner Mannschaft die Ohren mit Wachs verklebte und sich selbst an den Schiffsmast festbinden ließ. Er konnte hören, weil er sich das Handeln versagte.

Wenn sich im Kino etwas anbahnt, das wir möglicherweise nicht ertragen, halten wir uns die Hände vors Gesicht. Schauen zwischen den Fingern auf die Bilder wie durch einen Vorhang, den wir jederzeit zuziehen können. Nur: Das Hören bleibt. Wir sind ohne Wachs dem Hören ausgeliefert. Es gibt einen Film von Werner Herzog, da erschlägt Woyzeck – gespielt von Klaus Kinski – einen Mann, der vor ihm am Boden liegt, mit einem großen Stein. Ich werde das Schädelknochenzertrümmerungsgeräusch nie vergessen. Wir können wegschauen, aber wir können nicht weghören. Beim Hören geht das Licht aus.

Wohin wir unsere Aufmerksamkeit lenken.

Und doch: Auch das Hören können wir beeinflussen und trainieren. Stellen sie sich einen Raum vor, in dem getrunken, getanzt und diskutiert wird. Und stellen sie sich vor, sie werden von jemandem angerufen und versuchen, ein Gespräch zu führen. Sie werden nie ganz bei diesem Gespräch sein. Und sie werden, wenn sie auf achtsam sind, beobachten können, wie ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Raum, in dem sie sich befinden, und dem Gespräch hin- und herwandert. Sie werden beobachten, dass einmal das Gespräch, das sie führen, einem Rauschen ähnlich ist – wenn plötzlich neben ihnen jemand etwas bestellt, der ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht -, und dann wieder voller Sinn, wenn alles um sie herum Hintergrund ist, Rauschen. Kein Sinn ohne Störung, kein Rauschen ohne Sinn.

Auf der einen Seite unsere Sinne. Mehr oder weniger abstrakt. Vom Hörsinn, zum Geruchssinn, zum Tastsinn, bis zum Sehsinn. Auf der anderen Seite unser Bewusstsein, das unsere Sinneseindrücke verarbeitet, in Beziehung setzt und in Geschichten gießt. Der menschliche Geist ist zu sehr viel fähig: Wir können uns jeden Ton bewusst machen und jeden Schnitt. Aber die Qualität, die uns das Hören schenkt, ist je gerade die, dass wir uns gehen lassen. Hören ist wie eine Tür in einen anderen Zustand. Einen Zustand, der sich nicht durch Grenzen und Punktierungen auszeichnet, sondern durch fließende Übergänge. Ein Zustand, in dem wir nicht mehr wollen, sondern einfach sind.

In China gibt es dafür einen besonderen Begriff: Wu-Wei. Dabei dreht sich alles darum, in der Zone zu sein und sich im Fluss, im Flow zu befinden. Zugrunde liegt die Idee, dass wir die besten Ergebnisse spontan in den Momenten erzielen, in denen wir uns nicht so sehr anstrengen. Man sieht es immer wieder – im Spitzensport genauso wie in der Kunst – außergewöhnliche Leistung hat oft etwas Schlafwandlerisches, Müheloses, Instinktives. Das Paradoxe daran und das Geheimnis von Wu-Wie ist, dass dieser Moment, in dem wir uns ganz dem Unterbewusstsein überlassen, jahrelange Anstrengung verlangt.

Natürlich müssen wir das Zuhören trainieren. Aber wir sollten uns immer vor Augen halten, dass wir am Ende nur die Vorbereitungen treffen, damit unser Unterbewusstsein übernehmen kann.

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